Am 17.08.2014 fand in Köln unter dem Titel "Gegen jeden Antisemitismus" eine Kundgebung des Bündnis gegen Antisemitismus Köln statt.
Dort wurde auch der hier dokumentierte Redebeitrag verlesen.
Antisemitismus und bürgerliche Gesellschaft
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
eigentlich sollte unser Vorhaben hier ein leichtes sein. Diejenigen, gegen die wir hier demonstrieren, scheinen sich ja alle Mühe zu geben, sich selbst zu diskreditieren. Mal peinlich, wie die Auftritte von Jürgen Todenhöfer und ähnlicher reaktionärer Wirrköpfe, mal entlarvend, wie Hitlergrüße auf Friedensdemos, oder schlicht widerlich, wie der Missbrauch von Zivilisten als menschliche Schutzschilde.
Und doch ist es schon immer leichter gewesen, tausende von Menschen für eine Demo gegen den sogenannten jüdischen Aggressor zu mobilisieren als ein paar dutzend für eine Kundgebung gegen eine Ideologie der Vernichtung, mit der wir es, wie meine Vorredner eindrücklich dargelegt haben, hier zu tun haben.
Ich sage das nicht, damit wir uns in unangebrachtem Pathos jetzt als die letzten Aufrechten selbst auf die Schulter klopfen könnten, sondern weil das weitgehende Ausbleiben von Solidarität mit den Opfern antisemitischer Attacken in Israel und überall auf der Welt ein Indiz dafür ist, dass ein großer Teil der Bevölkerung dem Gerücht über die Juden vielleicht doch Glauben schenken könnte und sich fragt, ob die Juden es ja vielleicht tatsächlich verdient haben.
Wie kann es also sein, dass sich in den mehr als zweihundert Jahren seit der Aufklärung nicht die Vernunft gegen den Judenhass durchgesetzt hat, sondern der Antisemitismus als tödliche Irrationalität, trotz fortschreitender Bildung aller Bevölkerungsschichten, nicht zurückging, sondern in der Shoah gipfelte? Und wie kann es sein, dass trotz dieses Menschheitsverbrechens heute noch Ressentiments gegen Juden überall auf der Welt so verbreitet sind?
Wenn man auf diese Fragen eine Antwort finden will, reicht es nicht, den Antisemitismus als eine Spinnerei von rechten, linken oder migrantischen Extremisten zu verstehen, wie es beispielsweise Joachim Gauck gerne tut (und man kann ihm mit dieser Aussage nicht vorwerfen, seinen Job als Repräsentant des deutschen Staates schlecht zu machen). Auch wenn er bei Nazis, Antiimperialisten und Salafisten am deutlichsten zu Tage treten mag wird diese Darstellung schon allein durch die immer wieder nachgewiesene Verbreitung antisemitischer Ressentiments über Unterschiede in Herkunft, sozialem oder politischem Milieu hinweg widerlegt.
Genauso wenig ist Antisemitismus eine einfache Spielart des Rassismus, der zufällig die Juden trifft. Auch wenn er augenscheinlich viele Gemeinsamkeiten mit rassistischen Vorurteilen haben mag, erklärt dies nicht die andauernde Verteufelung einer spezifischen Gruppe als das Weltübel schlechthin.
Viel weiter kommt man beim Erklären der Wandlungsfähigkeit, der Zähigkeit und der Universalität des modernen Antisemitismus, wenn man ihn als zur modernen bürgerlichen Gesellschaft gehörig und als mit ihr und aus ihr heraus entstanden begreift. Die Gedanken hinter dieser Analyse und warum sie uns so wichtig ist,will ich kurz versuchen darzulegen.
Es fällt erst einmal auf, dass der moderne Antisemitismus immer dann auftritt, wenn die kapitalistische Moderne gerade in einer Gesellschaft Einzug erhält:
Im Europa des 19. Jahrhunderts, wo parallel zum Prozess der Industrialisierung und der Ausformung bürgerlicher Staaten zum ersten mal die deutsche Volksgemeinschaft proklamiert und direkt als vom Judentum bedroht erklärt wurde und im Russischen Reich die revolutionäre Unruhen der 1880er Jahren gemeinsam mit Pogromen aus der Bevölkerung heraus, als auch mit gesetzlicher Diskriminierung von oben auftraten, oder im 20. Jahrhundert im Nahen Osten zeitgleich mit der Öffnung der osmanischen Wirtschaft, der Schuldenkrise und später dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches und schließlich mit der Kolonialisierung nach dem Ersten Weltkrieg.
Mit der Modernisierung erfährt die jeweilige Bevölkerung das Aufbrechen tradierter Gesellschaftsformen durch Urbanisieren, Vereinzelung, Säkularisierung und Lohnarbeit und ist ökonomischen Verwerfungen und Konkurrenzkampf ausgesetzt.
Auffällig ist auch, dass Antisemitismus sich immer als Selbstverteidigung geriert. Von den regelmäßigen Pogromen im Europa des 19. Jahrhunderts über die Nazis, bis hin zum nicht zufällig so benannten Islamischen Widerstand oder dem Geheule der Montagsmahnwachen stellt sich der verbale oder physische Angriff auf die Juden immer als die Verteidigung des Naturwüchsigen, gegen das als parasitärer Schädling oder auch als Tumor geschmähte Judentum.
Aber warum sieht sich der Antisemit bedroht? Entscheidend ist, was er in der Gestalt des Juden sieht: eine ungeheuer machtvolle, internationale Verschwörung.
Die Verbindung zur kapitalistischen Moderne besteht dabei nicht nur darin, dass der Antisemit Juden als gierige Ausbeuter und raffende Kredithaie mit der Zirkulationssphäre (d.h. Waren- und Geldmärkten) identifiziert. Er steht vielmehr für den als äußerlich wahrgenommenen, vom Kapitalismus verursachten gesellschaftlichen Umbruch im Allgemeinen zum Beispiel gleichzeitig als böser Ausbeuter und als umstürzlerischer Bolschewist.
Dahinter steht der Wunsch, gewisse nicht greifbare, abstrakte, aber allgegenwärtige Phänomene zu personifizieren: Das notwendig zum Kapitalismus gehörende zinstragende Kapital wird nicht als seine eigene Verwertung in Gang setzender Wert; der Zins wird nicht als nur ein Anteil des bei der Produktion entstandenen Mehrwerts gesehen. Es scheint vielmehr, als würde Geld wundersam neues Geld entstehen lassen.
Der Jude wird zur Verkörperung dieser nicht greifbaren, scheinbar nicht mit der sogenannten Realwirtschaft in logischer Verbindung stehenden abstrakten Prozesse und all ihrer wirtschaftlichen und dann auch gesellschaftlichen Auswirkungen.
Der moderne Antisemitismus ist so eine ressentimentgeladene Rebellion gegen den Kapitalismus auf Grundlage einer verzerrten Wahrnehmung der ökonomischen Verhältnisse.
Diese äußert sich aber meistens nicht nur als reaktionärer Antikapitalismus, sondern will die Bewahrung des Konkreten und Natürlichen (zum Beispiel als sogenannte ehrliche, produktive Arbeit) gegen das Abstrakte, Künstliche, Heimatlose sein.
Dabei wird das Konkrete als natürliche Volksgemeinschaft biologisiert, das Abstrakte in der Gestalt des Juden. An die Stelle von sachlich vermittelten Verhältnissen zwischen Personen steckt bei ihm die jüdische Verschwörung als Personifizierung hinter noch dem letzten Übel der Welt.
Nun hat sich natürlich bei weitem nicht jeder Stammtischler mit antisemitischen Vorurteilen und nicht jeder islamistische Terrorist Gedanken über Zinsen gemacht. Dass muss er auch nicht unbedingt, um Antisemit zu werden oder zu sein, denn soziologische, sozialpsychologische und nicht zuletzt historische Faktoren, wie zum Beispiel der religiöse Antijudaismus spielen eine wichtige Rolle. Aber der Wille zur Vernichtung der Menschen, die man als die Verkörperung ungreifbarer Mechanismen imaginiert, denen man sich machtlos ausgeliefert fühlt, ist strukturell in allen, je nach Kontext unterschiedlichen Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus nachweisbar.
Was kann man daraus für Schlüsse ziehen? Der Antisemitismus wird als potentiell mörderisches, ressentimentgeladenes Aufbegehren gegen das sozioökonomische System immer seinen Platz in der heutzutage globalisierten bürgerlichen Gesellschaft haben. Wenn wir beenden wollen, dass die Menschen eine Verschwörung von Menschenfeinden statt menschenfeindlicher gesellschaftlicher Verhältnisse für das Leid in der Welt verantwortlich machen, wird uns nichts anderes übrig bleiben, als diese Verhältnisse grundlegend zu verändern.
Etwas besseres als die bürgerliche Gesellschaft ist nun aber ist bei bestem Willen nicht in greifbarer Nähe. Dass heißt aber nicht, dass wir zur Tatenlosigkeit verurteilt sind. Es wichtig, dass eine Kritik der extremen Ausformungen des Antisemitismus immer auch eine Kritik der Gesellschaft einschließt, die ihn hervorbringt.
Der Antisemitismus wird also wohl so bald nicht verschwinden. Um so wichtiger ist es, dass es einen Staat wie Israel gibt, bei dem der tägliche Schutz seiner Bürger gleichzeitig auch die Aussicht auf Schutz für alle vom Antisemitismus verfolgten darstellt.